Rezension: Kind 44 von Tom Rob Smith


Tom Rob Smith legt mit "Kind 44" einen eindrücklichen und sauber recherchieren Thriller aus der Stalin-Ära in der UdSSR vor, der auf wahren Begebenheiten basiert. Ist eine Empfehlung wert.

Leo Demidov arbeitet beim russischen Sicherheitsdienst MBG. Unter der Diktatur von Stalin gleicht Russland einem Überwachungsstaat, bei dem jeder Bürger als potenzieller Spion durchleuchtet wird. Selbst seine Frau Raisa muss Demidov, der im MBG Karriere gemacht hat, ausspionieren und beim geringsten Verdacht auch gleich denunzieren - so will es das russische Gesetz. Der Verdacht gegen seine Frau stellt sich als unwahr heraus und das teilt Leo seinen Vorgesetzten auch so mit. Trotzdem wird er strafversetzt und degradiert. Aus Moskau wird er nach Wualsk geschickt und muss für die dortige Miliz arbeiten. Nicht gerade das, was sich Leo für seine Karriere gewünscht hat und hinzu kommt, dass seine Frau ihm gesteht, dass sie ihn nicht liebt, sondern verachtet für seinen Beruf und für seine Dienste an einem Staat, der aus ihrer Sicht überhaupt nicht funktioniert. Doch dann wird in Wualsk ein totes Mädchen gefunden. Es wurde ermordet, der Bauch aufgeschlitzt, der Magen entfernt, der Mund mit Rinde gefüllt und um das Fussgelenk eine Schlinge aus Schnur gelegt. Als Leo die Leiche sieht, stellt er sofort die Verbindung zu einem ähnlichen Mordfall in Moskau her, bei dem er vom MBG jedoch gezwungen wurde, den trauernden Eltern die Sache als Unfall zu verkaufen. Leo, der jetzt nichts mehr zu verlieren hat, beginnt zu ermitteln und findet schon bald eine grausige Serie von Morden, die immer nach demselben Schema ablaufen. Doch wie soll er die Morde in einem Land aufklären, das offiziell gar keine Verbrechen kennt?

Recherche und Schreibstil sind 1a
Der Thriller von Tom Rob Smith basiert auf der wahren Geschichte des Russischen Mörders Andrej Chikatilo der zwischen 1978 und 1990 sage und schreibe 56 Morde begangen und diese auch gestanden hat. Smith versetzt die Tat seiner Romanfigur einige Jahre zurück und bettet sie in einen anderen Kontext: Er macht daraus eine Familientragödie, in der ein verzweifelter Junge auf der Suche nach seinem Bruder, dem er immer zeigen wollte, wozu er in der Lage ist, zu drastischen Mitteln greift.
Die Erzählung von Smith vermag zu überzeugen und dafür gibt es neben dem angenehmen, leicht zu lesenden und dennoch stets spannenden Schreibstil des Autors vor allem einen zentralen Grund: die saubere Recherche. Beim Lesen kann man sich in die Atmosphäre dieses russischen Staates, in dem es keine Verbrechen gibt, weil das von der Regierung so propagiert wird, hineinversetzen. Die ständige Angst, ins Visier des MBG zu geraten, die prekären Verhältnisse mit Hunger, Kälte und Armut und auch der vorgetäuschte Patriotismus der Bürger werden von Smith glaubhaft dargestellt. Genauso auch die Funktion und die Arbeitsweise des MBG mit brutalen Foltermethoden, mit dem Verbot zu versagen und aus allen Verhafteten ein Geständnis herauszubringen. Was die historischen Daten und den Schreibstil angeht, vermag Smith also vollends zu überzeugen. Doch wie sieht es mit dem Plot aus?

Ein grosser Bock im Plot
Auch der ist über weite Strecken über jegliche Zweifel erhaben. Die Charaktere bringen die nötige Tiefe mit und scheinen genauso sauber konstruiert wie die Handlung. Keine Ungereimtheiten und keine gravierenden Logikfehler sind auszumachen. Natürlich kann man sich fragen, ob Raisa, die über keinerlei Ausbildung im Bereich der Spionage verfügt, sich tatsächlich unter einem fahrenden Lastwagen festhalten und aus einem fahrenden Zug springen kann. Darüber kann jedoch getrost hinweg gesehen werden, denn die Spannung wird über die gesamten gut 500 Seiten clever aufrecht erhalten - mit einer grossen Ausnahme: Viel zu früh erkennt man als Leser, wer der Täter ist. So bleiben danach nur noch die Fragen des Warums und wie das ganze aufgedeckt und abgehandelt wird. Das ist schade, denn so geht weiteres Spannungspotenzial etwas gar leicht weg... (fba)


Bibliografische Angaben:

Titel: Kind 44
Autor: Tom Rob Smith
Seiten: 509
Erschienen: 2010
Verlag: Goldmann
ISBN-10: 3442472075
ISBN-13: 978-3442472079
Bewertung: 

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